Fluch oder Segen

JUNEBUG

Die Familie, sie ist Fluch oder Segen oder beides zugleich - für jeden. Hass und Liebe liegen in ihr oft nur ein Iota voneinander entfernt. Aber dafür sind wir von unseren Familien oftmals meilenweit entfernt - nicht nur geographisch, sondern auch emotional und intellektuell.

Die geographische Entfernung ist bei JUNEBUG auf jeden Fall gegeben. George Johnston lebt als erfolgreicher Geschäftsmann in Chicago, während seine Familie im Nirgendwo von North Carolina zu Hause ist. Seine frisch angeheiratete Ehefrau Madeleine, Galeristin und Kunsthändlerin für eher exzentrische Künstler, reist mit ihm in seine alte Heimat, um dort einen kauzigen Maler unter Vertrag zu bekommen. Madeleine hält es für eine gute Idee, auch gleich noch bei Georges Eltern vorbeizuschauen um sich kennen zu lernen. George ist davon offensichtlich kaum begeistert.

In Georges Familie scheint am ehesten noch Ashley den nahenden Besuch der Großstädter zu erwarten. Die hochschwangere junge Ehefrau von Georges Bruder Johnny streift aufgeregt durchs Familienanwesen, was nicht mehr als ein unscheinbares Wohnhaus in einer pittoresken kleinstädtischen Strasse ist, und plappert - scheinbar ohne Luft zu holen - alle Gedanken die ihr im Kopf umherschwirren, munter aus. Amy Adams spielt  Ashley wunderbar mit Naivität und einer beinahe nervigen Aufsässigkeit. Doch lässt sie immer wieder einen sehr vielschichtigen Charakter durchblicken, der im tiefsten Herzen an einer gewissen emotionalen Kälte und Distanz ihrer Wunschfamilie zu leiden scheint. (Eine Oscar-Nominierung für Amy Adams ist die wohlverdiente Anerkennung ihres durchweg außerordentlichen Spiels.)

Ein Leiden, an dem der Rest des Johnston-Clans offenbar auch laboriert, insbesondere George. Er ergreift jedenfalls alsbald nach der Ankunft die "Flucht" und verschwindet beinahe von der Bildfläche. In den Gesprächen ist er dafür umso präsenter. Schnell merkt man allerdings, dass das Gespräch in dieser Familie ein Problem darstellt. Konversation findet statt, aber wirkliche Gespräche gibt es kaum. So bleiben Konflikte bestehen und fressen sich ein. Ein besonders schwerer Fall ist hier Georges Bruder Johnny: Ashleys Ehemann, gibt sich im Gegensatz zu seiner Frau höchst wortkarg. Spricht man ihn an, reagiert er unverzüglich gereizt und agressiv. Und die Wiederkehr seines Bruders ist hier ein ausdrückliches Reizthema. Den ganzen Film hindurch trennt die beiden Söhne ein offensichtlich unüberwindbarer Konflikt, dessen Ursachen jedoch nie wirklich geklärt werden. Regisseur Phil Morrison hält die Gründe dieser erheblichen Distanz geschickt in der Schwebe und setzt so die Gedankenwelten des Zuschauers in Gang. Ist Johnny auf George sauer, weil er fortgegangen ist und aus seinem Leben etwas gemacht hat, während er immer noch in seinem alten Kinderzimmer wohnt - samt Ehefrau? Johnnys Aggressivität trifft neben George und Ashley auch seine Eltern. Vor allem Ashley herrscht er fortwährend an, gibt ihr die Schuld dafür, dass er nie wirklich über die Stadtgrenzen hinausgekommen ist. Der Zuschauer hat da bereits erkannt, dass diese Beschränktheit längst nicht nur geographisch zu verstehen ist. Johnny, ein tumber Redneck - doch dieser naheliegende Einschätzung wird Phil Morisson alsbald einen Dämpfer verpassen.

Die Kamera sucht ob der brodelnden Stimmung immer wieder Ruhe und fotografiert die Umgebung, den Küchentisch, die Schlafzimmer - Momente des Friedens, die nur durch das vorher Gesehene wieder mit Bedeutung aufgeladen werden. Für sich genommen sind diese Einstellungen jedoch Zäsuren, die den fortwährenden Kollisionen der Persönlichkeiten stoische Gelassenheit entgegenstellen. Solche wundervollen kinematografischen Momente zeichnen das jüngste US-Independent-Kino aus. Auch Jeff Nichols bricht in seinem Bruder-Drama "Shotgun Storys" (welches auf dem diesjährigen Forum des Jungen Films der Berlinale Premiere feierte) immer wieder die explosive Angespanntheit und schiebt beinahe transzendente Stilleben der Umgebung ein.

Phil Morris schickt seine Kamera zudem immer wieder auch auf Beobachtungsposten und erzeugt so phasenweise eine dokumentarische Echtheit, die durch das Objekt der Beobachtung auch einen Einblick in eine amerikanische Gesellschaft liefert, die moralische Werte, Gottesfürchtigkeit und Gottvertrauen immer noch als höchstes Gut empfindet. Wenn sie auch in den eigenen vier Wänden schnell an ihre Grenzen stößt, wie das Schicksal der Familie Johnston zeigt.

So ist "Junebug" neben einer glaubwürdigen Familiengeschichte auch das aufschlussreiche Porträt einer Gesellschaft, die dem stetigen Verfall des Familiären einen festen, glaubensbasierten Wertekanon entgegen zu setzen versucht. Dies, außerordentliche Darstellerleistungen und eine wunderbare Kamera machen Phil Morrisons Film zu einem kleinen cineastischen Meisterwerk.