Klaffende Wunden

Die Liebe in mir - REIGN OVER ME

Bei den Anschlägen des 11. Septembers 2001 verloren etwa 3003 Menschen ihr Leben. Gibt man "9/11" in die Internetsuchmaschine Google ein, so erhält man 200 Millionen Einträge. Kaum ein Ereignis der jüngeren Geschichte ist derart massiv in den Fokus der Weltöffentlichkeit gedrungen, wie die Anschläge auf das World Trade Center. Und sechs Jahre später ist das Thema immer noch aktueller denn je, wenn die Nachrichten neue Attentate, Entführungen und Militäreinsätze in Afghanistan melden. Hollywood kommt an 9/11 selbstverständlich nicht vorbei. Die filmische Auseinandersetzung mit dem Thema brachte bisher Filme wie Oliver Stones Patriotismus geschwängertes Epos „World Trade Center“, oder Paul Greengrass schockierendes, aber gleichermaßen wichtiges Doku-Drama „United 93“ - Flug 93 hervor. 
Filme, die sich direkt mit den Anschlägen auseinandersetzten.

Die Auswirkungen der Attentate auf die Menschen und die Stadt New York blieben vom großen Hollywood-Kino bisher relativ unbeachtet. Lediglich Spike Lees fantastische filmische Allegorie „25th Hour“ - 25 Stunden - thematisierte das Post-9/11 New York. Sechs Jahre nach den Anschlägen schien die Zeit offenbar reif zu sein, für eine filmische Aufarbeitung der Hinterbliebenen-Schicksale. 

REIGN OVER ME (dt. Titel: DIE LIEBE IN MIR) was übersetzt soviel wie „Herrsche über mich“ bedeutet und dem The Who-Song "Love, reign o'er me" entlehnt sein dürfte, erzählt die Geschichte von Charlie Fineman (Adam Sandler), einem Zahnarzt aus Manhattan. Seine Frau und seine drei Töchter starben in einem der Flugzeuge, das die Twin Towers rammte. Seit den Anschlägen hat sich Charlie von seiner Umwelt und allem, was vor den Anschlägen war, abgekapselt. Er meidet seine Verwandten, seine alten Freunde, hat die Praxis aufgegeben und sich in eine eigene Welt zurückgezogen. Die Musik und ein Videospiel bestimmen seinen Alltag, wenn er gerade mal nicht die Küche renoviert. Kindlich unschuldig durchlebt er den Tag, saust mit einem Roller durch Manhattans Strassen und wird von seiner Vermieterin vor allen Störungen durch die Außenwelt geschützt. Wild wuchert sein Haar, seine Kleidung wirkt abgetragen, sein Drei-Tage-Bart schreit nach einer Rasur. Er sammelt Vinyl-Platten, spielt das Schlagzeug in einer Punkband. 

Alan Johnson (Don Cheadle) ist ein erfolgreicher Zahnarzt in einer Praxisgemeinschaft. Seine Patienten zahlen cash, seine Familie kann als mustergültig bezeichnet werden, seine Frau als umwerfend. Der silberne Volvo-Combi setzt den markanten letzten Pinselstrich unter das wundervolle Familiengemälde. Eines Abends saust Charlie auf dem Heimweg an ihm vorbei; hier setzt die Geschichte ein. Charlie und Alan waren Studienfreunde, hatten ein gemeinsames Zimmer an der Uni. Nach 9/11 verlor Alan den Kontakt zu ihm.

Mike Binders Melodram REIGN OVER ME kann einerseits als fantastisch angesehen werden. Immer dann, wenn sich der Streifen ganz auf Charlie konzentriert, auf die Darstellung dieser schwer traumatisierten Figur. Einfühlsam und mit großer Ruhe wird ihr begegnet. Respektvoll ist ein anderes passendes Wort. Charlie wird weder vorgeführt, noch wälzt sich der Film in Mitleid. Konzentriert und um Glaubwürdigkeit bemüht, beschreibt Binder die Auswirkungen, die ein derartiges Trauma auf einen Menschen haben kann: Posttraumatische Belastungsstörung nennt die Psychologie das, was Charlie widerfährt. Adam Sandler spielt seine Figur großartig! Verloren in sich selbst, verängstigt von dem unfassbaren Grauen, das ihm widerfahren ist, tastet sich der Charlie des Adam Sandler beinahe autistisch durch den Alltag. Binder inszeniert ihn in einem dunklen, herbstlichen New York. Immer wieder läst er seinen Kameramann Russ Alsobrook Totalen von entvölkerten Strassenzügen einfangen: Leere, wo einst etwas war, klaffende Wunden in den Köpfen - immer noch. Warum man diesen, im Grunde grandiosen Film dann allerdings auf dem Altar der hollywoodschen Erzählkonventionen opfern muss, bleibt zumindest dem geneigten Cineasten unverständlich. 

Mit der Figur des Alan und seiner ganzen Familie wird Charlie ein Kontrastprogramm gegenübergestellt, das verfehlter nicht sein könnte. Zwar ist das Gespann der beiden Männer, Alan und Charlie traumhaft mit anzusehen, doch schleppt auch Alan sein Päckchen mit sich herum; ein abgrundtief banales Päckchen im Vergleich zu Charlie. Seine Frau hält ihn zu sehr an der Kandarre, engt ihn ein. Und seine Kollegen in der Praxis behandeln ihn wie einen Untertan, obwohl er die Praxis aufgebaut hat. Zusätzlich macht ihm eine Patientin das Leben schwer, die ihn erst zu verführen versucht, um dann – zurückgewiesen - eine Belästigungsklage gegen ihn anzustrengen. Das Drehbuch kocht daraus einen zähen, schmalzigen Brei zusammen, der neben Charlie schlicht peinlich wirkt. Zum Finale muss Charlie auch noch ausrasten und landet prompt vor dem Richter, um eingewiesen zu werden. Spätestens hier wünscht sich der fassungslose Zuschauer, Binder hätte das große Studio links liegen gelassen und aus der Grundgeschichte einen kleinen Independentfilm gemacht. Doch REIGN OVER ME ist leider eine Hollywood-Produktion. Und so gilt es zu differenzieren, was diesen Film trotzdem sehenswert macht. Es ist eben jene Grundgeschichte des Charlie Fineman in Verbindung mit dem Spiel von Adam Sandler. Es sind jene Momente, in denen diese großartigen Kamerabilder von New Yorks Strassen die Leinwand füllen, und dabei dankenswerterweise sämtliche Aufnahmen von Ground Zero vermeiden. Und es ist der fantastische Soundtrack, allen voran "Love, reign o'er me", das hier durch Pearl Jam intoniert wird. REIGN OVER ME - Die Liebe in mir, kein perfekter Film. In der Reihe der 9/11-Streifen jedoch einer der sehenswerteren Filme.