Frequenz der Implosion

MATERIAL
20 Jahre - DDR im Film (1)


Ein Land stirbt – die erste Sequenz in Thomas Heises MATERIAL legt diese Annahme nahe: Kinder spielen im Dreck, daneben stehen alte Autos am Straßenrand. Die Häuser im Hintergrund wirken, als ob sie jeden Moment in sich zusammenfallen würden. Bilder, wie wir sie heute nur noch von TV-Reportagen aus dem tiefsten Osteuropa kennen; Halle an der Saale, Anfang der 90er Jahre.

Der Begriff „Sequenz“ ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht korrekt, denn er suggeriert, dass die Bilder in fester Absicht, für diesen Film verwendet zu werden, entstanden. Alle Bilder in MATERIAL entstammen aber anderen Drehs, anderen Zusammenhängen, anderen erzählerischen Zwecken. Sie sind schlichtes Bildmaterial, „das übrig geblieben ist, das meinen Kopf belagert.“ So spricht es Thomas Heise zu Beginn aus dem Off.


80er Jahre: Regisseur Fritz Marquart  | (c) Bild: Thomas Heise

Thomas Heise, Jahrgang 1955, Professor für Film an der Staatl. Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, gilt heute als einer der profiliertesten Dokumentarfilmer Deutschlands. Seine Anfänge gestalteten sich dabei alles Andere als leicht: Das Studium an der HFF Potsdam-Babelsberg musste er 1982 infolge operativer Bearbeitung durch die STASI abbrechen und seine freie Autorenschaft wurde stets mit Aufführungssperren bestraft und das Werk von sieben Jahren ins Archiv verbannt. Erst 1987 besserte sich die Lage als ihn Dramaturg Heiner Müller und der renommierte Dokumentarfilmer Gerhard Scheumann als Meisterschüler an die Akademie der Künste der DDR holten. 1990 folgte er Fritz Marquardt ans Berliner Ensemble und realisierte dort auch eigene Stücke. Theater und Dokumentarfilm durchdringen sich fortwährend in Heises Werk. Nicht selten fertigte er filmische Arbeitsdokumentationen an, bspw. zu Heiner Müllers „Zement“ 1994. Das Kino nahm ihn jedoch stets als Dokumentarfilmer war, vor allem nach seiner gleichermaßen umstrittenen wie preisgekrönten Dokumentation STAU – JETZT GEHT’S LOS, in welcher er 1992 eine Gruppe junger Neo-Nazis aus Halle/Saale in ihrem Tun und Denken porträtierte. MATERIAL greift diesen Film und das dahinterstehende Phänomen einer ziel- und haltlos gewordenen Gesellschaft auf, in dem Aufnahmen von der Premiere in Halle/Saale enthalten sind, welche in Tumulten zwischen Autonomen und Rechten eskalierte und in der Ausfälle der anwesenden „Zivilgesellschaft“ gegen das Drehteam den Schluss bildeten.

90er Jahre: Neonazis randalieren bei der Vorführung eines Heise-Films |  (c) Bild: Thomas Heise

Es gibt in MATERIAL so etwas wie eine zentrale Choreografie, eine Frequenz bestimmter Orte und Personen, obwohl der Streifen eigentlich aus der völligen Formlosigkeit, aus einem Haufen Film in diversen Formaten entstanden ist: „Man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen.“ Dieser wortwörtliche Haufen; Heise in den Trümmern des Palastes der Republik, den Schuttberge füllen, wo knapp zwanzig Jahre zuvor noch die Kameras ausgeschlossen wurden, damit sich Mitglieder der letzten Volkskammerbesetzung zu IM-Vorwürfen äußern können. Der Westen, „Spiegel-TV“ brachte 1991 eine dreiteilige VHS-Box heraus. Darauf: Die gesammelten Werke der Spiegel-TV-Kamerateams vom Herbst 89 bis Winter 90. Die Kameras des Westens kehren nach dem Schnitt in den Saal zurück, in dem nun viele Sessel leer sind. Dazu Wagners „Rienzi“. Heise verzichtet auf all das, verzichtet auf Pathos, auf Zeitenwende-Geschwurbel und auf die Zurschaustellung des Zerfalls. Fragmente eigener Erinnerungen, zufällig auch mit Bildmaterial unterlegt, statt morbidem Suhlen im Kadaver eines implodierten Staates.

89: Politbüromitglied Günter Schabowski | (c) Bild: Thomas Heise

Wie es war, wie es ist, wie es nie gewesen sein wird – wie es nie war: 20 Jahre später ist der Blick auf die DDR, auf ihren Untergang, ihre Abwicklung entstellt und verunstaltet. Durch Ostalgie, durch Verklärung, durch Negierung. Die Blickrichtung auf den Osten, sie kommt heute aus dem Westen. Heises MATERIAL ist eine Art verschwundener Gegenschuss zur Sichtweise, dass 16 Millionen Deutsche nur Teil eines Unrechtsregimes waren; schwarz/weiß. Aber die Bilder, welche Heises Kamera im Herbst 89 aufnahm sind grau. Grau wie alles, was mit diesem Land zusammenhing. Im Laufe der eigenen Erinnerungs- und Rezeptionsarbeit von MATERIAL wird das wieder bewusst. MATERIAL ist ein 166 Minuten dauernder Resonanzraum, eine Erinnerungsfläche. W-Fragen sind omnipräsent im eigenen Kopf: Was wurde aus den spielenden Kindern, wo war man selbst zu diesem Zeitpunkt und wo wäre man heute, wäre die Realität eine andere? Aber W-Fragen werden immer von einem Standpunkt im jetzt und heute gestellt und so kommt MATERIAL nicht ohne die Gedanken an die Welt außerhalb des Kinosaals aus. Eine Welt, in der der Osten immer noch der ärmste Teil dieses neuen, zwanzig Jahre alten Hybriden Bundesrepublik ist und in der Rechtphilosophen dazu aufrufen, das Grundgesetz auf dem Gebiet der verblichenen DDR nachträglich zur Abstimmung zu stellen. Solche Gedanken wirft Thomas Heises MATERIAL genauso auf, wie die Fragen nach der Vergangenheit und kommt damit im heute an anstatt im gestern zu verharren.

Winter 90: Ost-Berlin | (c) Bild: Thomas Heise

Über zwei Stunden dauert diese Reise durch eine archivierte, jetzt wieder hervorgeholte und neu codierte Erinnerungslandschaft. Damit ist dieser Film vielleicht einer der wertvollsten Beiträge zu jenem Jahrestag im Herbst 09. Eine filmische Aufforderung, die eigenen Erinnerungswelten wieder zu individualisieren und damit die negierenden Blickwinkel von West nach Ost oder die ostalgische Verklärung zu ersetzen. Zwanzig Jahre danach ist ein guter Zeitpunkt, um sich mit der eigenen Erinnerung auseinanderzusetzen und Rückschlüsse für die Zukunft zu ziehen, die eigene und die kollektive. Damit ist MATERIAL auch ein Beweis für den unschätzbaren Wert, den das Kino hat: Als einzigartiger Ort, an dem Menschen kollektiv zu Erinnerungs- und Denkarbeit angeregt werden. Dabei ist das Alter unbedeutend, da MATERIAL als Dokument, als rohe, unbearbeitete Bilderwelt auch zukünftige Generationen dazu einlädt, sich mit diesem Material und seiner Geschichte zu befassen, darin zu verweilen und eigene Schlüsse zu ziehen.


MATERIAL
Deutschland 2009
Regie, Buch: Thomas Heise
Kamera: Peter Badel, Sebastian Richter, Thomas Heise, Jutta Tränkle, Börres Weiffenbach
Schnitt: René Frölke