Die doppelte Witwe

KUMA
Berlinale 2012_Panorama

Eine Frau übergibt sich, man hört es nur, im Bild ist ein kleiner Spiegel. Schließlich taucht ihr Gesicht in dem Spiegel auf. Sie ist älter, wirkt kränklich und blass. Ihr Gesicht ist eng von einem Kopftuch eingerahmt, sie zupft es zurecht. Zwei weitere Frauen kommen in den Raum, der sich als kleine, spartanische Hütte herausstellt. Sie reden aufgeregt auf Türkisch. Eine von ihnen ist in ein wunderschönes Hochzeitsgewand gekleidet. Ayşe heiratet, anschließend wird sie ihr Heimatdorf in der türkischen Provinz verlassen und zu ihrem neuen, kaum älteren Mann nach Wien ziehen. Ayşe kann kein Wort Deutsch. Im Folgenden sei die weitere Handlung des Films skizziert:


Wovon Ayşes Familie keine Ahnung hat: Ihre Tochter heiratet nicht den Mann, für den die Hochzeit ausgerichtet wird. Ayşe geht als Zweitfrau nach Wien. In Wirklichkeit hat sie den Vater des jungen Mannes geheiratet: Mustafa. Zum Leidwesen von Mustafas mitunter wesentlich älteren Kindern, die die „Neue“ rundheraus ablehnen. Diese Heirat fand nicht auf Wunsch des Bräutigams statt. Es war die Bitte seiner ersten Ehefrau Fatma, ihm eine zweite Frau an die Seite zu geben. Fatma ist schwer an Krebs erkrankt, alles scheint auf ihren Tod hinaus zu laufen. Sie will in dem Wissen sterben, dass eine würdige Nachfolgerin ihren Platz eingenommen hat.

Um des lieben Friedens willen versuchen sich ihre fünf Kinder, allen voran die ältesten Töchter, mit der Situation zu arrangieren. Doch sie murren offen und auf Deutsch. Ayşe kann sie zwar hören, aber verstehen tut sie nichts. Sie nimmt nur wahr, wie sie geschnitten und verächtlich behandelt wird. Fatma geht zu jeder sich bietenden Gelegenheit dazwischen, beugt sich wie eine Superglucke über die junge Frau, die auf der Straße als ihre Schwiegertochter angesehen wird. Das Ayşe defakto Fatmas Kollegin ist, bleibt Familiengeheimnis. Fast noch ein Mädchen, zierlich und mit leiser, feiner Stimme schafft sie es kaum, ihren Platz zu behaupten. Sie beschränkt sich auf die Rolle einer guten Hausfrau und kommt ihren „ehelichen Pflichten“ nach. Schläft im Ehebett und mit ihrem Mann, während seine erste Ehefrau nebenan im Kinderzimmer liegt und die leisen Töne des sich vollziehenden Geschlechtsakts mit friedlicher Miene goutiert. Natürlich wird Ayşe schwanger werden.

KUMA, das Regiedebüt von Umut Dag schont seine Zuschauer zu keinem Zeitpunkt. Neben der an sich schon dramatischen Grundkonstellation werden diverse Nebenschauplätze eröffnet. Von der Gewalt in der Ehe der ältesten Tochter, welche auf Weisung ihrer Mutter stillhält. Bis zum schwulen Sohn, der sein Geheimnis irgendwann unter Tränen Ayşe gesteht als diese sich in ihn verlieben will. Kurz zuvor war, gegen alle Erwartungshaltungen, nicht Fatma sondern ihr Mann gestorben. Womit das Drehbuch plötzlich zwei Witwen derselben Familie installiert und alle Beteiligten zwingt, die Situation völlig neu zu denken. Zu diesem Zeitpunkt hat das Drehbuch von KUMA bereits alle denkbaren Fettnäpfe mitgenommen. Der endgültige narrative Overkill folgt mit etwas Abstand, aber er folgt am Ende - das hier ebenfalls schon kolportiert sei:

Ayşe beginnt mit dem jungen Metzger des türkischen Supermarkts (sic!) eine Affäre im Lagerraum. Durch einen dummen Zufall werden beide durch Fatma inflagranti erwischt, woraufhin diese in einem furiosen Wutanfall Ayşe zu Tode prügeln will. Nur ihre Kinder halten sie mit Mühe davon ab und stellen sich schließlich vor Ayşe. Fatma fordert ihre Verbannung in die Türkei. Dank der Kinder bleibt sie. Im letzten Bild deutet sich eine vorsichtige Wiederannäherung zwischen beiden Frauen an. Bei so viel Story darf das Happy End nicht fehlen. Überbordend vor rundheraus abstrusen Wendungen und Petitessen – KUMA erfüllt alle Voraussetzungen einer großen Dramödie. Aber leider meint Umut Dag seinen Film in jeder Sekunde ernst. Die Darsteller werden entsprechend geführt: Nihal Koldas als Ayşe darf nie über eine diffus lächelnde Miene hinaus kommen. Ihre Gesichtszüge scheinen so hilflos wie ihre Figur. Während Begüm Akkaya als weise leidende Glucke Fatma bis zu ihrem Finale wie sediert wirkt. Ausbrüche, ja wenigstens größere Regungen, die diese Figuren als ernst zu nehmende Menschen ausweisen würden, bleiben aus. Die Darsteller bleiben Figuren in einem außer Kontrolle geratenen Schachspiel.

Ein düsterer Wiener Altbau dient über weite Teile als Location. Das suggeriert ein Kammerspiel, bleibt aber über weite Strecken nur behauptet. Dafür fehlt hier schlicht die Glaubwürdigkeit. Eine aufsässige Kamera, die leidenschaftlich gern Steadycam und Kamerakräne einsetzt, unterstreicht zusätzlich das Niveau, auf dem sich KUMA letztendlich bewegt: Ein satter TV-Problemfilm. Der Gedanke daran, welches Publikum sich Umut Dag für sein Werk vorgestellt haben mögen, ist der sinnbildliche Grabstein auf das eigentlich noch taufrische Oeuvre dieses Regisseurs.

KUMA
Österreich 2011
93 Minuten
DCP, Farbe
Regie: Umut Dağ
Buch: Petra Ladinigg, Umut Dağ
Kamera: Carsten Thiele
Schnitt: Claudia Linzer
Darsteller: Nihal Koldaş, Begüm Akkaya, Vedat Erincin, Dilara Karabayır, Murathan Muslu
Produktion: Wega Filmproduktion, Wien
(c) Bild: Wega Film/Berlinale 2012