Leise Kauzigkeit

FOR ELLEN
Berlinale 2012_Forum

Das erste Bild, ein Straßenschild mit einem Pfeil nach links und rechts, steht stellvertretend für das ganze Dilemma im Leben von Joby Taylor. Der junge Kerl, irgendwas um Mitte 20, fährt mit seinem Wagen durch eine winterliche Landschaft. Er hat es eilig, warum wissen wir noch nicht. Auf der glatten Fahrbahn gerät er ins Schleudern, dreht sich in eine Schneewehe. Fluchen, bis der Abschleppwagen kommt.


Joby ist Rockmusiker. Der ganz große Erfolg scheint sich bisher nicht eingestellt zu haben, oder liegt schon länger zurück. Sein Wagen sieht nicht danach aus, als ob er viel Geld hätte. Angespannt und abgekämpft zugleich wirkt Joby, irgendwie auch verloren. Bald wissen wir, er ist auf dem Weg zu seinem Anwalt. Die Scheidungspapiere mit seiner Ex-Frau sollen unterschrieben werden. Doch eigentlich will Joby das alles gar nicht, er versucht lieber mit seiner Ex zu sprechen. Die blockt ihn ab: „Wenn Du etwas willst, wende dich an meinem Anwalt.“ Scheinbar zum ersten Mal überhaupt interessiert sich der junge Mann plötzlich dafür, was hier gerade passiert. Und zum ersten Mal bemerkt er, was in diesen Scheidungspapieren drin steht: Er bekommt das Haus, sie das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Ellen. Wut.


Regisseurin So Yong Kim zeichnet mit Joby Taylor einen eigenbrötlerischen, introvertierten Charakter. Er bekommt selten den Mund auf und wenn, dann sind das eher Gedankenfetzen, die er versehentlich laut ausspricht. Irgendwie ist dieser Typ ein Rock’n Roll-Klischee und er hat ein Alkoholproblem. Wenn er trinkt, trinkt er viel. Hier ist ein Mensch seit langer Zeit auf der Flucht. Wovor? Das bleibt Spekulation. Flucht vor Verantwortung? Flucht vor der Konfrontation mit seiner Ex, mit seinem bisherigen Leben, mit seiner Zukunft? Dass ihm nun dauerhaft die Tochter entzogen werden soll, schlägt in diesem Leben ein wie ein Blitz. Wir werden Zeuge einer Häutung, der Flüchtling vor dem eigenen Leben kämpft plötzlich mit sich selbst. Joby will seine Tochter, um die er sich sonst nie gekümmert hat, nicht verlieren.


FOR ELLEN gleicht sich als Film seinem Protagonisten auf interessante Weise an. Wunderbar ziellos und leise kauzig verlaufen diese 94 Minuten, nehmen sich kurze Auszeiten von der Geschichte oder verharren länger in einer Szene. Einen wirklichen Rhythmus besitzt dieser Film nicht, aber das ist auch nicht zwingend. Hauptdarsteller Paul Dano trägt dieses Werk, trägt diesen Joby Taylor. Ihm in seinem Kampf um sich selbst und seine Tochter zuzuschauen ist einer der stillen, kleinen Höhepunkte im aktuellen unabhängigen US-Kino.

FOR ELLEN
USA 2012
94 Minuten
HDCAM, Farbe
Regie, Buch: So Yong Kim
Kamera: Reed Morano Walker
Schnitt: So Yong Kim, Bradley Rust Gray
Musik: Johann Johansson
Produzenten: Jen Gatien, Bradley Rust Gray,
So Yong Kim
Darsteller: Paul Dano, Jon Heder, Shaylena Mandigo
Festival: Sundance 2012, Berlinale-Forum 2012
(c) Bilder: Carolyn Drake/Berlinale 2012/Sundance 2012