Panorama 2013 - Diffuse Mittelmäßigkeit

27. Panorama
Berlinale 2013

Das Panorama der Berlinale fällt bereits seit Jahren durch eine mediokere Grundhaltung auf. Das mag an der diffusen Selbstbeschreibung der Sektion liegen, die sich dann auch in der mitunter wahllos erscheinenden Kuratierung der Filmauswahl widerspiegelt. Kommerzielles Arthouse-Kino trifft auf Dokumentarfilm unterschiedlichster formaler wie inhaltlicher Herangehensweisen. Trifft auf ausschließlich inhaltsbasierte zeitgenössische Filme des nicht-heterosexuellen Spektrums, die ohne jeglichen kinematografischen Anspruch daher kommen. Alles legitim, doch auf Dauer und in der Quantität enervierend. So kann man beim Panorama generell weniger von guten oder schlechten Jahrgängen sprechen. Die qualitative Grundtendenz der Sektion ist generell eher indiskutabel. Gleichwohl stechen immer wieder Höhepunkte, wie auch erhebliche Tiefschläge, aus dem überladenen Sektionsprogramm heraus. Für den Sektions-Jahrgang 2013 gilt dies uneingeschränkt. Eine kompakte Besprechung der gesichteten Filme des Panoramas 2013.

FRANCES HA | © Copyright MFA+ FilmDistribuion e.K.

Panorama | Eine Frau Ende zwanzig, ihre Wunschkarriere als Tänzerin scheint nicht mehr so richtig in die Gänge zu kommen. Ihre beste Freundin verlässt die gemeinsame WG für Ehe und Familie. New York, 2012. Noah Baumbachs Dramödie FRANCES HA erzählt von einer Art verspätetem Coming-of-Age. Von Menschen, die mitten im Leben stehen, aber eigentlich nicht richtig wissen bzw. wissen wollen wo hin mit sich. Vor dem Hintergrund eines New Yorks, in welchem Geld über die Zugehörigkeit und den Status entscheidet, lauern Existenzängste an jeder Ecke. Zeitgeistkritisch entwickelt Noah Baumbach seinen Film und schickt seine Hauptfigur auf eine herausfordernde Suche nach einem Platz im Leben. Zärtlich und melancholisch, zugleich auch sehr unterhaltsam und kurzweilig, zeigt sich FRANCES HA als einer der Höhepunkte im Arthouse-Segment des diesjährigen Panoramas.

Panorama-Dokumente | NAKED OPERA, Angela Christliebs mockumentarisches Porträt eines schwulen luxemburgischen und angeblich sterbenskranken Lebemanns, begeistert durch die messerscharfe und geradezu philosophische Wortgewandtheit des Hauptprotagonisten. Faszinierender gestaltet sich jedoch der Kampf zwischen Filmteam und Protagonist über die Entwicklung, die Absichten und Ziele dieses Filmprojekts.

BOVEN IS HET STILL | © Salzgeber Filmverleih

Panorama | Nanouk Leopolds atmosphärischer Film BOVEN IS HET STILL begleitet einen vereinsamten mittelalten Bauern durch seinen Alltag mit seinem bettlägerigen Vater. Unvermittelt bricht ein junger Knecht in den deprimierenden Lauf der Dinge ein und rüttelt an tief verborgenen Begierden des Mannes. Leopold gründet ihr Werk narrativ wie visuell fast ausschließlich auf einer Sprache der Berührungen und Blicke. Dies ergibt einen optisch reizvollen Film, der jedoch zu viele dramaturgische Leerstellen produziert, um sein Publikum über die gesamte Lauflänge an sich zu binden.

Panorama | CONCUSSION -> siehe ausführliche Besprechung hier: THE ADVANTAGE OF BEEING A WOMAN

Panorama Dokumente | Sebastian Liefshitz mittellanges Portrait BAMBI räumt vor allem seiner Protagonistin Marie-Pierre Pruvot Raum für persönliches Erzählen ein. Liefshitz verwebt ihre Reflexionen mit alten Fotos und Filmaufnahmen von Spaziergängen Bambis durch Alger in jüngerer Zeit. Es entwickelt sich eine intensive wie lebendige Geschichte, die wesentlich mehr vermittelt als "nur" das Leben eines faszinierenden Menschen.

Panorama | Ein Sommer-Nachmittag in einem Schwimmbad am Strand. Der tägliche Schwimmkurs für behinderte Jugendliche versammelt fünf höchst unterschiedliche Charaktere. Derweil hängen Regen- und Gewitterwolken am Himmel und drohen stetig mit Abkühlung von oben. Am Ende fahren alle wieder nach Hause. Ein Nachmittag und einige Schauer sind vorübergezogen. Vernarrt in Genre- & Filmreferenzen, verspielt in der Entwicklung seiner Geschichte und in verträumte Bilder gefasst, fasziniert der mittellange argentinische Film LA PISCINA.

BELLEVILLE BABY | © Mia Engberg

Panorama-Dokumente | Nach zehn Jahren Funkstille, tritt unvermittelt ein Mann in Mia Engbergs Leben, von dem sie nie wieder zu hören glaubte. Erinnerungen brechen auf und kollidieren mit dem Leben, das in der Zwischenzeit stattgefunden hat. Engberg verarbeitet in ihrem dokumentarischen Streifzug BELLEVILLE BABY dieses unvermittelte Wiedersehen und schafft dabei eine herausfordernde Erzählung über die Möglichkeiten eigentlich unmöglicher Liebesbeziehungen. Hier die junge, angehende Filmstudentin aus Schweden, dort der junge Kriminelle ohne Elternhaus aus einem Pariser Vorort. Dabei findet sie nicht nur narrativ, sondern auch filmisch eine atmosphärisch dichte wie ausdrücklich kinoaffine Form.

Panorama-Dokumente | LA MAISON DE LA RADIO präsentiert sich als gleichsam konzentrierte wie anziehende Untersuchung dessen, was Sprechen und Reden als Kommunikationsmittel eigentlich bedeuten. Der Untersuchungsgegenstand "Radio France" (Deutschlandfunk auf Französisch) hätte dabei nicht besser gewählt sein können.

Panorama-Dokumente | Die Bearbeitung der Geschichte nicht-heterosexuellen Lebens in der DDR bleibt glücklicherweise weiterhin Thema im Panorama. Jochen Hicks Beitrag OUT IN OST-BERLIN profitiert vor allem von den Geschichten seiner Protagonisten. Diese reichen von der Suche nach dem kleinen Glück bis zum Mut, sich dem Konflikt mit dem rigiden DDR-Regime zu stellen. Dabei verändern ihre Erzählungen nachhaltig das Bild vom einzigen sozialistischen Staat auf deutschem Boden. Gleichwohl bleibt die Dokumentation formal weit hinter ihren Möglichkeiten zurück und enttäuscht insbesondere beim Umgang mit Archivmaterial.

Panorama-Dokumente | Musik-Dokumentationen waren einmal die Stärke des Panoramas. Doch SING ME THE SONGS THAT SAY I LOVE YOU beweist nachdrücklich, dass die Kuratoren der Sektion bei dieser Gattung des dokumentarischen Films jegliches Gefühl verloren haben. Lian Lunson liefert eine uninspiriert hingeworfene Konzert-Doku ab, in der sich Kitsch, schlechte Fotografie und ungenügende Ton-Abmischung darum streiten, was das größte Ärgernis an diesem Werk ist.

Panorama | Die mutmaßliche Geschichte des berühmtesten heterosexuellen Pornos im 20. Jahrhundert, "Deep Throat", entwickeln Rob Epstein & Jeffrey Friedman in LOVELACE als prüdes Melodrama über die körperliche Ausbeutung einer naiven jungen Frau. Übersättigt mit Zeitkolorit, scheitert dieser Film von vornherein an seinem allzu eindimensionalen und durchgehend erwartbaren Drehbuch.

INTERIOR. LEATHER. BAR. | © Franco/Matthews/Berlinale 2013

Panorama | INTERIOR. LEATHER BAR., reizvolle filmische Versuchsanordnung, deren Funke jedoch nur allmählich überspringen will und die erst kurz vor Abspann wirklichen Drive entwickelt. Entgegen der naheliegenden Vermutung interessiert sich das Werk nur wenig dafür, was und wie viel an der Legende der angeblich verschwundenen 40 Minuten CRUISING wirklich stimmen könnte. Stattdessen provoziert INTERIOR. LEATHER BAR. unwillkürlich die Frage, wer von den beiden Regisseuren, James Franco & Travis Matthews, den jeweils Anderen wofür benutzt?

Panorama | In MALADIES fehlen mir einige Minuten, in denen ich wegen Schlafmangel eingenickt bin. Dem Film tut das keinen Abbruch. Mein Erleben in Versatzstücken korrespondiert auf interessante Weise mit diesem Werk. Dessen innere Ziellosigkeit gibt den Figuren den notwendigen Freiraum, um die eigene Zerrissenheit auszuhalten. Ein im besten Sinne verschrobenes, rätselhaftes Stück Film.

Panorama | WILL YOU STILL LOVE ME TOMORROW - romantische Komödie um einen verheirateten schwulen Optiker, dessen wohlgeordnetes Hetero-Leben aus den Fugen gerät, als ihm DER Richtige über den Weg läuft. Warmherzig in Szene gesetztes Genrestück, das die Last der reichlich verwendeten homo- und heteronormativen Klischees jedoch kaum tragen kann.

LOSE YOUR HEAD | © Mutter Film 

Panorama | LOSE YOUR HEAD ist vielleicht einer der verzichtbarsten Streifen in diesem Jahr: Die zentral problematischen Stellen liegen bereits in Geschichte und Drehbuch begründet, welche nie hätten realisiert werden dürfen: Ein junger, schwuler, spanischer Easyjet-Partytourist (!) verstrickt sich im Berliner Nachtleben in Abgründe aus Drogen und vermeintlichem Verbrechen (sic!). Dabei findet das Werk keinerlei filmische Mittel, um eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen. Stattdessen werden sattsam bekannte Berlin-Klischees in dramaturgisch vollkommen unausgewogenen Genre-Behauptungen reproduziert. Ärgerlich.

Panorama | Kann man per Webcam und Skype Regie führen, während man einen Ozean weit entfernt vom
Filmset sitzt? BEHIND THE CAMERA geht dieser Frage auf angenehm unterhaltsame Art nach und verwickelt den Zuschauer in eine fantastisch absurde Film-im Film-im Film-Geschichte. Gemeinsam verlieren hier irgendwann Zuschauer und Filmfiguren den Überblick. Der Weg zurück ist ein kurzweiliger kleiner Film.

Panorama-Dokumente | TPB AFK - The Pirate Bay away from keyboard: Handzahme Doku, die die Materie kaum nennenswert durchdringt und sich eher darin gefällt, die Protagonisten zu Antihelden des digitalen Zeitalters zu stilisieren.

ROLAND KLICK - THE HEART IS A HUNGRY HUNTER | © Filmgalerie 451

Panorama-Dokumente | ROLAND KLICK - THE HEART IS A HUNGRY HUNTER - Sandra Prechtels ruhig und konzentriert zusammengesetzte Doku setzt ausschließlich auf die begeisternde Erzählkraft ihres Protagonisten. Hinterfragt wird hier nichts, es geht ausschließlich um die Herstellung eines Epitaph nach den Wünschen Roland Klicks.

Panorama-Dokumente | STATE 194 - typisch US-amerikanische Bewegungs-Doku mit ausdrücklicher Intention. Dabei werden die Vorgänge um den gescheiterten Anerkennungsprozess Palästinas als Vollmitglied der UN nachgezeichnet und der palästinensischen Ministerpräsidenten Fayyad zum großen Hoffnungsbringer aufbaut.