Berlinale 2017: Bulletin (4) - Panorama Mix 1: ERASE AND FORGET, THE WOUND, CHAVELA, IN THE INTENSE NOW

„De opresso liber“ – Die Unterdrückten befreien, ein Siegelspruch der Special Forces des US-Militärs. Diese Truppen wurden (und werden) durch die USA eingesetzt, während das Weiße Haus über den offiziellen Einsatz „gewöhnlicher“ Soldaten noch diskutierte. Ihre Einsatzgebiete: Korea, Vietnam, Südamerika – überall. Ihr Auftrag: alternative Kriegsführung. James Gordon ‘Bo’ Gritz war einer dieser besonderen Kämpfer und er wurde darüber zur Legende, welche alles erhielt, was die USA an Verdienstorden zu bieten hatten: „We were bulletproof and we kind of really were it.“

‘Bo’ Gritz als Kind, 1942 | (c) Bo Gritz/Berlinale 2017

Die britische Filmemacherin Andrea Luka Zimmerman widmet diesem Mann ihr dokumentarisches Porträt ERASE AND FORGET. Dieser Typ, der heute mit Silbermähne und gepflegtem Bart über Waffenmessen tingelt, um sich selbst zu vermarkten, ist, wie sich in diesem Film schnell lernen lässt, ein außergewöhnlicher und außergewöhnlich zwiespältiger Charakter. Er war die Blaupause für die Filmfigur Rambo, er reflektiert ziemlich gelassen darüber, dass er um die 400 Menschen in seiner aktiven Dienstzeit getötet hat, er ist ein Waffennarr und ein Aktivist für die psychische Gesundheit von Kriegsveteranen. Die politische Rechte, die Patrioten und Verschwörungstheoretiker verehren ihn, jungen Bewunderern und deren Faszination für Krieg steht er wiederum skeptisch gegenüber.
Im Laufe seines Lebens, dies arbeitet Andrea Luka Zimmerman deutlich heraus, hat der Mann mehrfache persönliche Transformationen durchschritten und sich – ganz Soldat – neues Terrain und Einnahmequellen erobert. „I am, who I say I am“, gibt er der Filmemacherin in die Kamera zu Protokoll und daran ändert auch ERASE UND FORGET wenig. James Gordon ‘Bo’ Gritz erzählt immer nur das, was er erzählen will. Darüber hinaus weiß er sehr genau um seine Leinwandpräsenz. Zeitweise wirkt ERASE UND FORGET daher wie ein stiller Machtkampf zwischen den beiden Seiten der Kamera. Andrea Luka Zimmermans Mittel der Gegenwehr sind die Montage und die Befragung von Jahrzehnten an Archivmaterial über, mit und von ‘Bo’ Gritz. Wer dieser Mann wirklich ist und was ihn zu dem gemacht hat – am Ende wissen wir darüber vielleicht genauso viel (oder wenig) wie vorher. Und doch sind 90 hochspannende Minuten Dokumentarfilm vorübergegangen.



Der Übergang vom Jungen zum Mann - der südafrikanische Stamm der Xhosa widmet diesem Zeitpunkt mitunter immer noch ein archaisches Ritual, bei dem Frauen absolut ausgeschlossen sind. Jungen Teenagern wird dabei die Vorhaut ohne Betäubung oder sonstige medizinische Unterstützung abgetrennt. Nach dem Schnitt müssen die Betroffenen etwa eine Woche in einer Strohhütte in der Wildnis ausharren und ihre schmerzhafte Wunde pflegen. Der Filmemacher John Trengove siedelt in diesem Setting seine Geschichte des Fabrikarbeiters Xolani an, der als eine Art traditioneller Betreuer den aufsässigen und schwulen Stadtjungen Kwanda versorgen muss, welcher von seinem Vater zu dieser Prozedur genötigt wurde. Doch Xolani hat ein Geheimnis, er pflegt seit Längerem eine Beziehung zu einem anderen Betreuer, die nur dann ausgelebt wird, wenn beide zusammen in den Bergen für die Begleitung des Beschneidungsrituals zusammenkommen. Kwanda entdeckt alsbald dieses Geheimnis und baut fortan Druck auf, diese Beziehung nicht länger zu vertuschen. Für Xolani undenkbar – „Was in den Bergen passiert, bleibt in den Bergen“. Die Tragik von John Trengoves THE WOUND liegt darin, dass diese Geschichte nach der Hälfte des Films auserzählt ist. Zu unterkomplex sind die Charaktere gezeichnet, denen die Darsteller auch nur wenig Lebendigkeit abringen können. Und zu schachbrettartig ist die Geschichte aufgebaut, um etwaige Spannung aufkommen zu lassen oder das Interesse wenigstens zu halten. Rund 40 Minuten lassen John Trengove und seine Co-Drehbuchautoren Thando Mgqolozana und Malusi Bengu das Publikum auf ein allzu offensichtliches Ende dieser flauen Tragödie warten. Ein Ärgernis.



Chavela Vargas prägte mit ihrem eindringlichen, dramatischen Gesang über Jahrzehnte die Musikszene Mexikos. Sie intonierte Lieder, die von Liebe, Schmerz und dem Verlassenwerden berichteten - und die eigentlich dafür geschrieben wurden, von Männern interpretiert zu werden. Doch das focht Chavela Vargas nicht an, machte sie doch zeit ihres Lebens kein Geheimnis daraus eine Frau zu sein, die Frauen liebt. Ein Novum sondergleichen in der patriarchal-machistisch geprägten mexikanischen Gesellschaft. Chavela Vargas wurde 1917 in Costa Rica geboren, sie starb kurz nach ihrem letzten Bühnenauftritt im August 2012 in Mexiko Stadt. Catherine Gund und Daresha Kyi unternehmen in ihrer Dokumentation CHAVELA eine Reise in das Leben dieser scheinbar außergewöhnlichen Frau, die, wie sich lernen lässt, im spanischsprachigen Raum längst eine Art mythische Verehrung zu erfahren scheint und in Mexiko selbst zur Galionsfigur für lesbische Frauen geworden ist. Dabei, dies arbeiten die Filmemacherinnen in 90 Minuten durchaus eindrücklich heraus, wehrte sie sich Chavela Vargas bis ins fortgeschrittene Alter dagegen, die Worte lesbisch und homosexuell auf ihre Person anzuwenden. Gleichwohl CHAVELA informativ ist, enttäuscht diese dokumentarische Arbeit ob ihrer äußerst konventionellen Form. CHAVELA ist, wie so viele andere Dokumentationen des Berlinale Panorama, eine uninspirierte Montage von Archivmaterial und sprechenden Köpfen, quasi mundgerecht dem Publikum serviert. Dies ist insbesondere in Anbetracht der faszinierenden Archivalien, bestehend aus alten Film- und TV-Aufnahmen Chavela Varags, ärgerlich. Statt das Material für sich selbst sprechen zu lassen, wird es quasi illustrativ verschnitten. So bleibt diese Dokumentation letztendlich nicht mehr als eine Notiz in der Erforschung des Lebens dieser eindrucksvollen lesbischen Frau.



Filmstill aus IN THE INSENSE NOW | (c) Ikra/Berlinale 2017

Maos Kulturrevolution, die Studentenproteste im Mai 1968 in Frankreich, der sowjetische Einmarsch in Prag 1968, der Militärputsch in Brasilien – der brasilianische Dokumentarfilmer João Moreira Salles führt all diese Ereignisse auf der Leinwand und in einem filmischen Essay zusammen: IN THE INTENSE NOW hätte es ohne einen Zufallsfund im Nachlass der Mutter des Filmemachers vielleicht nie gegeben. Ausgerechnet im Jahr Eins der Kulturrevolution in China, reiste diese Frau als Touristin in das Land und hielt ihre Eindrücke mit einer 8mm-Kamera fest. Was ihre Kamera einfängt, und dies ist der spannendste Teil dieser reizvollen und faszinierenden filmischen Arbeit, sind vielleicht einzigartige Aufnahmen aus einem Land im radikalen Umbruch. Doch wusste diese Frau, was sie da filmte? Konnte sie die allgegenwärtigen Spruchbänder an den Häusern verstehen? João Moreira Salles hat, wie er im Laufe der 127 Minuten von IN THE INTENSE NOW klug herausarbeitet, einige Zweifel. Die Filme seiner Mutter stiften ihn an, sich weitere historisch wegweisende Ereignisse näher anzuschauen. Die Pariser Studentenproteste, den Prager Frühling bzw. sein Ende und die brasilianische Militärdiktatur. Anhand von teilweise kaum bekanntem Archivmaterial erörtert er den Verlauf der Ereignisse in Paris – in deren Zentrum: die ungleichen Kombattanten Daniel Cohn-Bendit und Charles de Gaulle. Er zeichnet den Einzug der Sowjets in Prag mit privatem 8mm-Material unbekannter Menschen nach und beschaut sich den ambivalenten Umgang des brasilianischen Militärs mit regimefeindlichen Kundgebungen. Dabei gelingt ihm eine kluge Abhandlung über den Entwicklungsprozess politisch-gesellschaftlicher Bewegungen und Umbrüche, stets eng geführt an der individuellen Befragung dessen, was seine Mutter und warum in China eigentlich aufgenommen hat. Spannend.