Berlinale 2017: Bulletin (6) – Forum-Mix 1: FOR AHKEEM, EL MAR LA MAR, CASA ROSHELL

Winter 2013: „Make it with me, or you won't make it at all.“ – der Richter am Jugendgericht in St. Louis, Missouri ist deutlich mit Daje. Soeben hat er die 17-Jährige dazu verurteilt, auf eine Art Sonderschule zu gehen, weil sie wegen Aufsässigkeit von der regulären Schule geflogen ist. Ein schwarzes Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsensein, vielleicht etwas stärker durchgeschüttelt von der Pubertät, aber sonst kaum auffällig – möchte man meinen. Doch die Dinge sind komplizierter, wie sich in der Dokumentation FOR AHKEEM von Jeremy S. Levine und Landon Van Soest bald zeigen soll. Daje und ihre Mutter leben in ärmlichen Verhältnissen in einem Stadtteil, der nicht weit entfernt liegt von der Nachbargemeinde Ferguson.

Daje im Klassenraum | (c) Berlinale 2017
 
Ferguson – jener Ort, in dem am 9. August 2014 der schwarze Jugendliche Michael Brown von einem weißen Polizisten erschossen wurde, obwohl er sich eindeutig ergab. Der Fall Michael Brown trat einen Proteststurm gegen rassistische Polizeigewalt in den USA los und hob das Thema auf die Bühne der Weltöffentlichkeit. Für die junge Daje hingegen ist das sinnlose Sterben schwarzer US-AmerikanerInnen Alltag. Auf ihrer Schulmappe hat sie die Namen von Freunden und Bekannten gekritzelt, die erschossen wurden. Und es sind viele Namen.
Für Daje ist klar, sie will nicht so enden. Sie will ihren Abschluss machen und weiterkommen im Leben, will die „Hood“ verlassen. Doch sie ist eben auch eine etwas aufbrausende Teenagerin, weshalb sie in der neuen Schule bald wieder an Grenzen stößt. Jeremy S. Levine und Landon Van Soest gehen in ihrer eindringlichen Langzeitbeobachtung auf Tuchfühlung mit ihren Protagonisten. Die Nähe, die Daje und ihre Mutter den Filmemachern gestatten, ganz egal wie mies die Situation gerade auch sein mag, ist frappierend. So abgedroschen das Wort auch klingt, aber diese 89 Minuten Dokumentarfilm sind eine absolut schonungslose Bestandsaufnahme von Status quo schwarzen Lebens in den USA. Wir sehen ein Land, dessen Gesellschaft sich auch im 21. Jahrhundert tief verstrickt sieht in Rassismus. Wir erleben einen Staat, welcher geradezu systematisch schwarze BürgerInnen diskriminiert und sie ihrer Chancen auf ein gutes Leben beraubt. Doch FOR AHKEEM bringt uns zugleich Menschen näher, die, egal wie oft sie über die Fallstricke der US-Gesellschaft auch stürzen mögen, immer wieder neuen Mut entwickeln sich aufzurappeln und irgendwie durchzubeißen. Der Kampf, den diese Menschen ausfechten, er wendet sich nicht nur gegen ein rassistisches Normativ, sondern auch gegen die eigene Resignation. FOR AHKEEM macht deutlich, dass dieser Kampf viele Opfer fordert, aber das er trotzdem gewonnen werden kann, solange es junge Frauen wie Daje gibt.



Wir hören mehr als das wir sehen: Wind pfeift und tost, Grillen zirpen, Vögel zwitschern, Donner grollt – Kies knirscht unter Füßen, Stimmen dringen aus dem Funkgerät. Der knirschende Kies, der rauschende Funkverkehr, es sind Klänge, die in die Sonora-Wüste von Menschen eingeschleppt werden. Diese Wüste erstreckt sich auf den nordwestlichen Teil Mexikos und die US-Bundesstaaten Arizona und Kalifornien. Diese Wüste ist Grenzgebiet, Naturschutzgebiet, Transitraum und Massengrab. Diese Wüste ist ein „Meer“ – EL MAR LA MAR heißt die experimentelle Dokumentation über diese Landschaft, auf 16 mm gedreht von den Filmemachern Joshua Bonnetta und J.P. Sniadecki. Gleichwohl der Ton hier der dominanteste Akteur zu sein scheint, sehen wir Filmbilder einer Landschaft, welche ein faszinierendes und atemberaubend schönes Ökosystem darstellt. Und die gezeichnet ist von menschlichem Einfluss. Einwanderer versuchen, durch die Sonora-Wüste in die USA zu gelangen. Von Schleppern auf diese Route geschickt und dabei sich selbst überlassen, finden Menschen nicht selten den Tod, sobald ihnen ihre Vorräte ausgehen, sie also weder Trinken noch Essen können, sich verirren, im Kreis laufen und schließlich zugrunde gehen. Oder in den Bergen der Wüste eine Klippe hinab stürzen. Oder einen giftigen Schlangenbiss erleiden. Was von ihnen übrig bleibt, sind Schuhe, Brillen, Tüten, Papiere, Kleidung, Skelette. Wenn die Menschen Glück haben, rettet sie die Border Patrol noch rechtzeitig. Doch zugleich wollen die Flüchtenden auch nicht gefunden werden, bedeutet dies doch das vorläufige Ende ihrer Reise und ihrer Träume. Die Border Patrol, eine Grenztruppe, die, technisch hochgerüstet, versucht mehr oder weniger gegen die Wüste staatliche Kontrolle durchzusetzen und doch meistens scheitert. Aus dem Off hören wir all diese Geschichten: vom Tod und vom Überleben. Von Eingewanderten und Gescheiterten. Von jungen Grenzpolizisten, welche die Abgeklärtheit ihrer älteren Kollegen im Angesicht des Todes kaum ertragen zu vermögen. Und von Einheimischen, die dem Sterben mit Wasserkanistern begegnen zu versuchen während sie zugleich die traumhafte, einzigartige, tückische Schönheit der Natur preisen. EL MAR LA MAR ist zutiefst verstörend und zugleich ein einzigartiger kinematografischer Trip.



Roshell Teranova | (c) Foto: Berlinale 2017


Das Telefon klingelt, der Hörer wird abgenommen. Wonach die anrufende Person fragt, hören wir nicht, aber dafür die Antwort: „Das Basis-Transformations-Set besteht aus einem Kleid, den Schuhen, dem Make-Up, Perücke und den Accessoires.“ CASA ROSHELL. Schnitt. Das Bild einer Überwachungskamera, ein Mann tritt ein, wird herzlich begrüßt, bezahlt an der kleinen, improvisiert aussehenden Kasse. Schnitt. Die Spiegelung in einem Schminkspiegel: eine Umkleide, ein etwas älterer Mann zieht sich aus und um. Ein weiterer Besucher tritt ein, auch er beginnt sich umzukleiden, zu rasieren, zu schminken. Allmählich entstehen aus unscheinbaren Männern (manche jünger, die meisten älter) stolze Schönheiten. „Feel the role, feel the attitude!“ – eine Transe gibt den anderen Nachwuchstransen Training. Wie bewegt man sich, wie nimmt man Positur ein, wie läuft man in High Heels, wie lässt man den Blick wandern. Dann, der Abend, Gäste kommen – Männer, zumindest hier in dieser „Casa“ sind sie alleinstehend und charmant. Was vor der Tür des Clubs ihr wahres Gesicht ist, bleibt im verborgenen. „Draußen behandeln uns Männer wie Dreck, aber hier, hier wollen sie von uns gefickt werden.“ Ein Spiel aus Verführung und Verführtwerden nimmt seinen Lauf zwischen kleinen, runden Tischen, kuschligen Sitzecken, dazu gedimmtes Licht. Die kleinen bunt flackernden LED-Kerzen auf den Tischen sind die einzigen Anker der Jetztzeit, der Realität in dieser zeitenthobenen Traumlandschaft – eine Realität irgendwo in Mexiko Stadt. Die Ladys sitzen an den Tischen, unterhalten sich miteinander, blicken auf ihre Smartphones oder flirten mit den Gästen. Vielleicht setzt sich einer der Herren zu ihnen, spendiert einen Drink, vielleicht küsst man sich und geht gar in den Raum hinter dem Vorhang. Jenen Ort, den die Kameras von Filmemacherin Camila José Donoso nie betreten, ganz egal ob die digitale Kamera, oder die 8mm-Filmkamera. Beide Kameras zusammen folgen sie dem amurösen Treiben, dem stets etwas Schwelgerisches und Leichtfüßiges innezuwohnen scheint. Doch die Unterhaltungen der Ladys künden auch von schwierigen Leben auf verschlungenen Pfaden, von Geheimnissen, gebrochenen Herzen und vom Verstoßenwerden für das, was man ist. Über all diese Ladys wacht Roshell Teranova, die große, blonde, stolze Hausherrin. Sie heißt die Gäste willkommen, sie sorgt sich um das Wohl der Damen, denen ihre „Casa Roshell“ ein Refugium bietet und sei es nur an Wochentagen, die mit D beginnen. CASA ROSHELL, ein kleines filmisches Juwel aus Mexiko.